Kapitel 1

Suna  – lebe lieber unerkannt

»Ich hab da was gemacht, bitte hasse mich nicht!«, meine Freundin Molly sieht zu mir auf. Sie zieht Instant-Hirsebrei über das Kassenband und grinst. »Isst Willi das immer noch so gerne?«

»Jap«, sage ich und rücke den Zweijährigen auf meiner Hüfte zurecht. »Was hast du gemacht, Molly?«

»Ähm…« Wird sie tatsächlich ein wenig rot?

Ich setze Willi neben das Kassenband und belade meine Tasche mit Hirsebrei, Milchreis und glutenfreien Nudeln, sowie mit Kaffee. Damit kommen wir eine Woche durch, Sander, Willi und ich. Wenn wir Glück haben, schenkt uns Opa Littel noch Zucchini und Salat und Bauer Magott lässt uns Möhren und Kürbis nachlesen.

»Molly!«, sage ich warnend.

»Was?«, fragt sie und ich bezahle. Starre einen Moment auf den Namen, der da auf meiner Karte steht. Suna Lutz. Suna Lutz, das bin ich, jedenfalls ist das der Name, den ich mir hier in Hintermindel gegeben habe. Lutz, wie das Licht. Das Licht, das mich überleben lässt.

Molly kassiert und kaut auf ihrer Unterlippe. Der Laden ist leer und sie schließt ihre Kasse. Sie winkt mir mitzukommen und holt uns beiden einen Kaffee am Automaten. Willi bekommt einen Apfel in die Hand gedrückt. Wir setzen uns vor den Supermarkt auf die Raucherbank und Molly zündet sich eine Zigarette an.

»Opa Littel hatte gestern ein Date«, sagt Molly. Wir beobachten Kunden, die den Laden betreten. Die seltsamen Zwillinge Trudi und Lydi, die seit fünfzig Jahren zusammenleben und ganz viele Katzen halten. Bauer Magotts Frau, die allen hilft, ob sie wollen oder nicht. Ich kenne sie alle, obwohl ich erst seit einem halben Jahr in Hintermindel lebe. Hintermindel ist eins dieser Dörfer, über das man eine Soap drehen könnte und die würde niemals enden. Molly, die hier geboren ist, hat mir jede schmutzige Kleinigkeit dieser Soap erklärt. »Du wirst leider nie eine richtige Hintermindlerin«, hat sie unter Kichern gesagt. »Vielleicht könnten das die Kinder deiner Brüder werden. Vielleicht und nur, wenn sie in mindestens zwei Vereinen sind und beim Maibaumstellen und beim Funkenfeuer helfen. Jedes Jahr!«

Die Chancen, dass wir lange genug hierbleiben, stehen ziemlich schlecht. Aber das habe ich Molly nicht gesagt.

Ich knuffe Molly in die Seite. »Molly!«, schimpfe ich.

»Na gut«, sagt sie und drückt ihre Zigarette aus. Sie stopft sie in ein Glas und dreht es zu. Ich beobachte ihre pink lackierten, langen Nägel. Die Farbe beißt sich auf wunderbare Art mit ihrer rotblonden Mähne und dem knallgelben Kleid, das sie trägt. Molly eben. Wo sie kreischend sichtbar ist, verschwinde ich in einer Menge. Während sie neben mir leuchtet wie ein Ampelmännchen und auffällt, bin ich unsichtbar. Eine böse Stimme in meinem Inneren sagt sogar, ich hätte sie mir nur deshalb zur Freundin genommen, weil ich neben ihr so wunderbar untertauchen kann. Aber das ist nicht die Wahrheit. Denn ich habe sie mir nicht ausgesucht. Es war genau umgekehrt.

»Du erinnerst dich doch an den einen Abend, als wir ein bisschen Blödsinn gemacht haben, bei dir zu Hause?«

»Du meinst, als wir den Pfefferminzlikör bekommen hatten? Der Likör, den Bauer Magott nicht mehr trinken soll, weil er sonst mitten in der Nacht mit dem Traktor durchs Dorf rast?«

Sie nickt und grinst.

»Keine Ahnung, ich erinnere mich an den Pfefferminzlikör. Und daran, dass Lazar am nächsten Mittag angerufen hat, weil er sich für das Zimmer interessierte. Ich habe kaum was kapiert von dem, was er erzählte, weil ich einen wahnsinnig furchtbaren Kater hatte. Was ist passiert?«

Willi wirft den Apfel auf den Boden. »Katze«, sagt er und windet sich von meinem Schoß. Tatsächlich stolziert ein riesiges Exemplar an uns vorbei, mit erhobenem Puschelschwanz und arroganter Mine. Willi rennt auf sie zu, doch die Katze macht einen Buckel und verschwindet im anliegenden Garten.

Willi bleibt am Gartenzaun stehen und sieht ihr sehnsüchtig hinterher.

»Na, Willi, magst du Katzen?«, fragt Opa Littel, der im Garten Rosen schneidet. Er winkt uns zu. Molly ist seine Tochter. Sie hat zu seinem Leidwesen keine eigenen Kinder und ist noch nicht verheiratet. Ein Skandal im Dorf. Und dabei ist sie schon 26 Jahre alt. Ein Jahr älter als ich! Also längst Zeit, Torschlusspanik zu bekommen, jedenfalls für gebürtige Hintermindler.

»Katze!«, sagt Willi und wippt auf seinen kurzen, stämmigen Beinchen.

»Ich glaube, die ist neu hier«, sagt Opa Littel. »Magst du auch Bücher, Willi? Ich habe bestimmt noch ein Katzenbuch von Molly.« Jeder im Dorf weiß, dass ich auf meine Brüder aufpasse, weil sonst keiner mehr da ist, der es tun kann. Jeder im Dorf hält das für ganz entzückend und überhäuft uns mit Geschenken.

Molly steht auf und zupft an ihrem Kleid. »Also, sei nicht böse, ich muss weiter machen.«

»Molly!«

»Okay, wir haben in der Nacht einen Film gedreht, Suna«, sagt Molly.

»Film?« meine Stimme klingt zu hoch. Ein unangenehmes Brodeln steigt in mir auf. Einen Film gedreht? »Wovon?«, frage ich.

»Das war so stark, glaub mir, du hast da etwas erzählt, das musste ich einfach aufnehmen, Suna!«

Ich erstarre.

»Und weiter?«, frage ich alarmiert. Das Brodeln in meinem Inneren verstärkt sich und schnürt mir die Kehle zu. Ich schlucke. Da ist eine Ahnung, worauf Molly hinaus will. Eine schwankende Erinnerung, schemenhaft und undeutlich. Wie wir lachend an unserem winzigen Küchentisch sitzen, Molly und ich. Sie fragt mich etwas und ich fange an zu erzählen. Da ist dieses kurze Innehalten, meine Vernunft, die gequält aufschreit, ich solle all das für mich behalten! Ich muss schweigen, lügen, untertauchen, unsichtbar bleiben. Nichts davon darf jemals jemand erfahren. Eine Stimme, die mich warnt, mich eindringlich warnt, niemals etwas preiszugeben, egal wem. Das ist für immer dein Geheimnis, Suna! Es geht um Leben und Tod! Doch all das ist so schwach geworden. Der Minzlikör ist stärker.

»Du hast diese Sachen erzählt, der Hammer, du musst es dir unbedingt ansehen, über die Geister, die zu dir sprechen und über das Licht in den Lügen und all das.«

Ich stöhne und vergrabe das Gesicht in den Händen. Ich habe das oberste und wichtigste Gesetz meines Lebens gebrochen. Was war dazu nötig? Einfach nur ein bisschen Minzlikör!

»Wer hat das gesehen?«, frage ich zwischen meinen Fingern hindurch. Die Ahnung brennt in meiner Kehle. Ich will die Antwort nicht hören. Sie ist schlimmer, als ich es ertragen kann!

»Ja also«, beginnt Molly und in meinem Kopf explodiert die Ahnung zur Gewissheit.

»Ich hab das später nochmal angeschaut, Suna, tut mir echt leid, ich war nicht nüchtern…«

Pause.

Die Gewissheit senkt sich eiskalt auf mich herab, wandert durch meinen Körper und lässt ihn einfrieren.

»Ich fand das so cool und hab es bei YouTube hochgeladen«, murmelt Molly. Weil ich nicht reagiere, fügt sie eilig hinzu: »Du kommst so unglaublich gut an, Suna, du kannst es dir nicht vorstellen! Zehntausend Likes! Dieses Video geht viral! Du bist berühmt…«

»Katze!«, sagt Willi und hält ein abgegriffenes Kartonbuch unter meine Nase. Eine niedliche Katze prangt auf dem Cover und darüber steht: Ich bin die kleine Katze.

»Toll, Willi«, murmle ich im Autopilotenmodus.